Jahrhundertaufgabe: Über die Lage in Armenien – Interview mit Marcel Röthig

Am 19. September startete Aserbaidschan eine Großoffensive in Bergkarabach. Etwa 100.000 Armenier*innen sind seitdem aus der Region geflohen. Wie ist die Situation heute?

Für Armenien gleicht die Integration der Geflohenen einer Jahrhundertaufgabe. Über das ganze Land verteilt suchen die Menschen nach Arbeit, Wohnraum, Kindergärten und Schulplätzen. Unklar ist, ob gerade ältere Menschen Anspruch auf armenische Pensionen oder andere Sozialleistungen haben. Viele ziehen weiter nach Russland oder ins westliche Ausland. Ungleich schwieriger haben es die wenigen in Bergkarabach verbliebenen Armenier*innen: Nach Schätzungen sind es nur weniger als 100 Menschen. Das Gebiet ist vollkommen unter aserbaidschanischer Kontrolle, Orts- und Straßennahmen sind inzwischen aserbaidschanisch und die Menschen müssen nun aserbaidschanische Dokumente beantragen. Mit großer Sorge schaut man in Armenien auf die weitere Entwicklung. Viele befürchten eine noch schlimmere militärische Eskalation, dieses Mal auf armenischem Boden, sollte Aserbaidschan nun möglicherweise aus einem Gefühl der Stärke heraus eine geforderte extraterritoriale Verbindung in seine Exklave Nachitschewan militärisch einverleiben. 

Wie ordnest du die Rollen Russlands und der Türkei in diesem Konflikt ein?

Russland hat trotz zweier militärischer Beistandsabkommen Armenien wiederholt im Stich gelassen. Das liegt zum einen daran, dass Russlands eigene militärische Kapazitäten erschöpft sind, wir also durchaus die Entwicklung im Südkaukasus als Folge von Russlands Schwächung bewerten können, zum anderen aber auch an einer politischen Prioritätenverschiebung: 2018 gab es in Armenien eine demokratische Revolution, die den früheren kritischen Journalisten Nikol Paschinjan ins Amt brachte. Mit dessen Führung, die größtenteils aus der Zivilgesellschaft kommt, fremdelt man in Moskau natürlich wie auch mit dessen zaghaftem Kurs nach Europa, während das autoritäre politische System Aserbaidschans dem des Russischen mehr ähnelt und auch wirtschaftlich Aserbaidschan mit seinen großen Erdgasvorkommen und seiner geografischen Lage am Kaspischen Meer zwischen Russland und dem Iran an Attraktivität gewonnen hat. Zum anderen hat Russland nur zwei Tage vor der Invasion in die Ukraine ein Militärabkommen mit Aserbaidschan abgeschlossen. Die Türkei hingegen ist traditionell eng mit Baku verbunden, sowohl kulturell als auch sprachlich, aber vor allem wirtschaftlich: So ist die Türkei für Aserbaidschan der Hub, wenn es um den Handel mit Öl und Gas geht. Ankara selbst wünscht sich freie Handelswege bis ans Kaspische Meer, um der eigenen Wirtschaft neue Perspektiven zu eröffnen, aber auch, weil es durchaus Bestrebungen gibt, das von Russland im Kaukasus hinterlassene Machtvakuum zu füllen. 

Siehst du eine Perspektive auf Frieden? 

Der jahrzehntelange Konflikt war letztlich seit ihrer Unabhängigkeit für Armenien und Aserbaidschan zwar ein identitätsstiftendes Element, hat aber gleichzeitig beide Länder stets in ihrer Entwicklung gehemmt. Mit der gewaltsamen Beendigung der armenischen Existenz in Bergkarabach fürchte ich, dass die Chance auf einen gerechten Frieden vertan wurde. Letztlich wiederholt Aserbaidschan den Fehler, den Armenien wiederum in den 1990er Jahren gemacht hat: Dass das Ausruhen auf einem militärischen Erfolg eben nicht zum Frieden führt. Wichtig für die EU ist es, darauf einzuwirken, dass es nicht zu einer noch schlimmeren Eskalation kommt. Dies kann sie durch Angebote, etwa der Visaliberalisierung als auch engere Kooperation gegenüber Armenien, als auch durch wirtschaftliche Angebote an Aserbaidschan, aber auch einer klaren Sprache, was die Folgen einer Invasion wären. Mit der EU-Beobachtungsmission EUMA auf der armenischen Seite der Grenze leistet die EU seit diesem Jahr zudem bereits mehr als jemals zuvor. Wünschenswert und zugleich vertrauensbildend wäre, wenn diese unbewaffnete Mission auch in Aserbaidschan arbeiten könnte. Beide Seiten haben Interesse am Frieden, doch auch mit einem formellen Abkommen ist noch viel dafür zu tun, dass der Frieden auch in den Köpfen ankommt. 

Marcel Röthig ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Südkaukasus;  Interviewer: Elias Noeske

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