Interview über die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze mit „Wir packen‘s an!“

Lieber Axel, wie ist die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze?

Im Schatten des Krieges in der Ukraine hat sich die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze sogar verschlimmert. Dadurch, dass sich die Anzahl der polnischen Soldat*innen an der Grenze zu Belarus massiv erhöht hat, gibt es eine Militarisierung der gesamten Grenzregion, unter der besonders die Menschen auf der Flucht leiden. Die Pushbacks, das heißt die illegalen und oft gewaltsamen Rückweisungen, haben stark zugenommen. Gleichzeitig ist der Zugang für Helfer*innen noch stärker eingeschränkt. Am schlimmsten ist jedoch, dass sich in der Öffentlichkeit, in Medien, Politik und Zivilgesellschaft, niemand mehr dafür interessiert. Die Unterteilung in gute, willkommene Geflüchtete und unwillkommene Geflüchtete hat für die Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze existenzielle Konsequenzen.

Welche Ziele/Schwerpunkte habt ihr euch bei Wir packen’s an für 2022 gesetzt?

Wir hatten uns vorgenommen, schwerpunktmäßig die geflüchteten Menschen an der kroatischen Grenze in Bosnien und auf den Straßen von Athen zu unterstützen. Beide Standorte bekamen auch schon vor dem Krieg in der Ukraine wenig Aufmerksamkeit und dadurch auch wenig Unterstützung. Es ist schwer zu glauben, mitten in Europa, aber an beiden Standorten ist Hunger eines der größten Probleme: Die Menschen haben einfach nicht genug zu Essen. Natürlich ist mit Beginn des Krieges in der Ukraine für uns ein neuer, hoffentlich nur vorübergehender Schwerpunkt hinzugekommen, nämlich die Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine. Wir sind sowohl in Polen aktiv als auch in Moldawien, einem der ärmsten Länder Europas. Uns ist jedoch wichtig, dass dadurch unser Engagement für die Menschen an den vergessenen Hotspots Europas nicht zu kurz kommt.

Im Dezember letzten Jahres habt ihr die Geflüchtete Marwa gerettet. Wie geht es ihr?

Seit Weihnachten ist sie in Sicherheit im Hunsrück, zum ersten Mal seit sieben Jahren zusammen mit ihrer Familie. Die gesundheitlichen Strapazen ihrer Flucht, besonders von der fürchterlichen Zeit im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, und der lange Krankenhausaufenthalt in Polen sind ihr noch immer anzusehen. Doch so ganz langsam wird die mutige junge Frau wieder sichtbar, die sich auf den vermeintlich sicheren Weg aus Syrien nach Belarus gemacht hatte, um endlich wieder bei ihrer Familie zu sein. Es ist allerdings bitter, dass so viel Mobilisierung und politischer Druck nötig waren, um eine einzige schwerkranke junge Frau in Sicherheit zu bringen. Das wäre ohne die Unterstützung von einzelnen engagierten Politiker*innen wie Dietmar Köster nicht möglich gewesen.

Was kann die Europäische Union dagegen unternehmen?

Im Angesicht der Menschen, die aus der Ukraine vor russischen Bomben fliehen müssen, konnte die EU sich sehr schnell auf ein gemeinsames Vorgehen zu ihrem Schutz verständigen. Warum tut sie nicht das Gleiche für Menschen, die aus Syrien vor russischen Bomben fliehen müssen, oder aus Afghanistan vor der Herrschaft der Taliban? Von der polnisch-ukrainischen Grenze werden Geflüchtete mit Bussen und Zügen kostenlos in Sicherheit gebracht. Nur ein kleines bisschen weiter nördlich, an der gleichen EU-Außengrenze, werden Menschen, die ebenfalls auf der Flucht vor Krieg und Unterdrückung sind, gewaltsam und illegal „gepushbackt“. Dagegen sollte die EU etwas unternehmen, wenn sie ihren Anspruch der europäischen Werte ernst nimmt.

 

Interview mit Axel Grafmanns, geschäftsführender Vorstand bei dem Verein Wir packen‘s an – Nothilfe für Geflüchtete

Interviewer: David Isken

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