Zwischen Eskalationsgefahren und Hoffnung auf Verhandlungen
Am Abend des 15. November stockte vielen Menschen der Atem. Die Medien meldeten Explosionen in der polnischen Grenzregion zur Ukraine. Wer vermutete – oder besser: befürchtete – nicht, dass es sich hier um eine russische Rakete handelte? Es drohte eine weitere Eskalation in diesem grauenhaften Krieg. Artikel 4 und 5 des NATO-Vertrags wurden diskutiert. Letzterer beinhaltet die Beistandsklausel, der die NATO in den Krieg geführt hätte. Wahrscheinlich war die Welt nie näher an einem neuen Weltkrieg seit der Kubakrise von 1962. Der österreichische Standard schrieb schon: Wir müssen uns auf einen Krieg einstellen. Für das ZDF war schnell klar: Polen bestätigt Einschlag russischer Raketen. Das nahm u.a. die Ober-Bellizistin und Waffenlobbyistin Strack-Zimmermann von der FDP ungeprüft zum Anlass, zu behaupten, dass es sinnlos wäre, überhaupt über Verhandlungen nachzudenken. Das Ganze war ein Versagen aller Medien, die bezüglich des hochbrisanten Themas Frieden und Krieg nicht abgesicherte Meldungen verbreiteten.
Anders ist die eher besonnene Reaktion der NATO und der polnischen Regierung zu bewerten. Sie hielten sich zunächst zurück und stellten schnell klar, dass es sich nicht um einen Angriff Russlands auf Polen, sondern um eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete handelte. Selensky stellte das als Einziger infrage, denn er verfolgt das Interesse, die NATO als direkte Kriegspartei zu involvieren. Damit besteht das Risiko, dass alle Dämme brechen.
Der schwere Zwischenfall zeigt, wie groß die Eskalationsgefahr ist, in einen Weltkrieg hineinzurutschen. Das muss verhindert werden, koste es was es wolle. In den USA mehren sich die Stimmen, die auf eine politische Lösung drängen. So zuletzt Armeegeneral Mark Milley, der Chef der Joint Chiefs of Staff und der oberste US-Militäroffizier.
Die EU-Kommission jedoch ist hinsichtlich des Themas Diplomatie völlig blank. Kommissionspräsidentin von der Leyen setzt darauf, die Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Das wird einer EU, die mal den Friedensnobelpreis erhalten hat, nicht gerecht. Zumal Europa in einem Weltkrieg als erstes zerstört würde.
Die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine bleibt unverzichtbar. Die barbarischen Angriffe der russischen Armee mittels Raketen und Drohnen auf die zivile Infrastruktur ist schärfstens zu verurteilen. Die Ukrainer*innen brauchen alle Unterstützung, um durch den Winter zu kommen. Wenn Wasser- und Stromversorgung zerstört sind, geht es um das nackte Überleben. Zivile und ökonomische Hilfe sind geboten, wie auch die Lieferung von Flugabwehrraketen.
Es ist schwer nachzuvollziehen, dass ukrainische Behörden den SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich auf eine Liste von „Informationsterroristen“ gesetzt haben, zusammen u.a. mit den Politikwissenschaftlern Johannes Varwick und Christian Hacke. Sie sollen als „Kriegsverbrecher“ vor Gericht landen. Das ist hinsichtlich der Tatsache, dass die SPD-geführte Regierung der Ukraine Ausrüstung, Geld und Waffen liefert und eine Million ukrainische Flüchtlinge in Deutschland versorgt, schwer erträglich.
Nur die Diplomatie kann wichtige Fortschritte erzielen. Das zeigen beispielsweise das auf Vermittlung der Vereinten Nationen am 19. November verlängerte Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland, die Gefangenenaustausche oder die Bemühungen der Vereinten Nationen, um das Atomkraftwerk Saporischschja eine demilitarisierte Zone zu schaffen.
Wer nur auf Waffen setzt, wird die Welt in den Abgrund führen. Wer auf Diplomatie setzt, schafft die Grundlage für Frieden. Die Waffen müssen endlich schweigen!
Text: Prof. Dr. Dietmar Köster