Jahrhundertaufgabe: Über die Lage in Armenien - Interview mit Marcel Röthig

Month: November 2023

Am 19. September startete Aserbaidschan eine Großoffensive in Bergkarabach. Etwa 100.000 Armenier*innen sind seitdem aus der Region geflohen. Wie ist die Situation heute?

Für Armenien gleicht die Integration der Geflohenen einer Jahrhundertaufgabe. Über das ganze Land verteilt suchen die Menschen nach Arbeit, Wohnraum, Kindergärten und Schulplätzen. Unklar ist, ob gerade ältere Menschen Anspruch auf armenische Pensionen oder andere Sozialleistungen haben. Viele ziehen weiter nach Russland oder ins westliche Ausland. Ungleich schwieriger haben es die wenigen in Bergkarabach verbliebenen Armenier*innen: Nach Schätzungen sind es nur weniger als 100 Menschen. Das Gebiet ist vollkommen unter aserbaidschanischer Kontrolle, Orts- und Straßennahmen sind inzwischen aserbaidschanisch und die Menschen müssen nun aserbaidschanische Dokumente beantragen. Mit großer Sorge schaut man in Armenien auf die weitere Entwicklung. Viele befürchten eine noch schlimmere militärische Eskalation, dieses Mal auf armenischem Boden, sollte Aserbaidschan nun möglicherweise aus einem Gefühl der Stärke heraus eine geforderte extraterritoriale Verbindung in seine Exklave Nachitschewan militärisch einverleiben. 

Wie ordnest du die Rollen Russlands und der Türkei in diesem Konflikt ein?

Russland hat trotz zweier militärischer Beistandsabkommen Armenien wiederholt im Stich gelassen. Das liegt zum einen daran, dass Russlands eigene militärische Kapazitäten erschöpft sind, wir also durchaus die Entwicklung im Südkaukasus als Folge von Russlands Schwächung bewerten können, zum anderen aber auch an einer politischen Prioritätenverschiebung: 2018 gab es in Armenien eine demokratische Revolution, die den früheren kritischen Journalisten Nikol Paschinjan ins Amt brachte. Mit dessen Führung, die größtenteils aus der Zivilgesellschaft kommt, fremdelt man in Moskau natürlich wie auch mit dessen zaghaftem Kurs nach Europa, während das autoritäre politische System Aserbaidschans dem des Russischen mehr ähnelt und auch wirtschaftlich Aserbaidschan mit seinen großen Erdgasvorkommen und seiner geografischen Lage am Kaspischen Meer zwischen Russland und dem Iran an Attraktivität gewonnen hat. Zum anderen hat Russland nur zwei Tage vor der Invasion in die Ukraine ein Militärabkommen mit Aserbaidschan abgeschlossen. Die Türkei hingegen ist traditionell eng mit Baku verbunden, sowohl kulturell als auch sprachlich, aber vor allem wirtschaftlich: So ist die Türkei für Aserbaidschan der Hub, wenn es um den Handel mit Öl und Gas geht. Ankara selbst wünscht sich freie Handelswege bis ans Kaspische Meer, um der eigenen Wirtschaft neue Perspektiven zu eröffnen, aber auch, weil es durchaus Bestrebungen gibt, das von Russland im Kaukasus hinterlassene Machtvakuum zu füllen. 

Siehst du eine Perspektive auf Frieden? 

Der jahrzehntelange Konflikt war letztlich seit ihrer Unabhängigkeit für Armenien und Aserbaidschan zwar ein identitätsstiftendes Element, hat aber gleichzeitig beide Länder stets in ihrer Entwicklung gehemmt. Mit der gewaltsamen Beendigung der armenischen Existenz in Bergkarabach fürchte ich, dass die Chance auf einen gerechten Frieden vertan wurde. Letztlich wiederholt Aserbaidschan den Fehler, den Armenien wiederum in den 1990er Jahren gemacht hat: Dass das Ausruhen auf einem militärischen Erfolg eben nicht zum Frieden führt. Wichtig für die EU ist es, darauf einzuwirken, dass es nicht zu einer noch schlimmeren Eskalation kommt. Dies kann sie durch Angebote, etwa der Visaliberalisierung als auch engere Kooperation gegenüber Armenien, als auch durch wirtschaftliche Angebote an Aserbaidschan, aber auch einer klaren Sprache, was die Folgen einer Invasion wären. Mit der EU-Beobachtungsmission EUMA auf der armenischen Seite der Grenze leistet die EU seit diesem Jahr zudem bereits mehr als jemals zuvor. Wünschenswert und zugleich vertrauensbildend wäre, wenn diese unbewaffnete Mission auch in Aserbaidschan arbeiten könnte. Beide Seiten haben Interesse am Frieden, doch auch mit einem formellen Abkommen ist noch viel dafür zu tun, dass der Frieden auch in den Köpfen ankommt. 

Marcel Röthig ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Südkaukasus;  Interviewer: Elias Noeske

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Gastbeitrag: Wer stoppt die Rechtsextremen?

Month: November 2023

Lichtblicke aus Spanien und Polen

Die vergiftete Atmosphäre in der EU, in der Rechtsextreme gedeihen, scheint anzudauern: Zuletzt gewann der Rechtspopulist Wilders die niederländischen Parlamentswahlen. Die vielen zusammenhängenden Krisen wie Kriege und der Klimawandel sowie ihre direkten Auswirkungen auf den Alltag in Form von Inflation und hohen Energiepreisen lassen die Sorgen vor der Zukunft und soziale Abstiegsängste wachsen. 

Rechtsextreme schlagen daraus Kapital. Sie schüren Ängste, um der Gesellschaft einen permanenten emotionalen Ausnahmezustand aufzuerlegen – so formuliert es Natascha Strobl, österreichische Politikwissenschaftlerin und Sozialdemokratin. Rechte Strategien bieten einfache Antworten auf komplexe Probleme. Dass das eine Rechnung ist, die nicht aufgeht, ist klar. Doch was kann die Sozialdemokratie dagegen tun?

Zuerst einmal: Der Rechtsruck in der EU ist nicht in Stein gemeißelt. Die Wahlergebnisse aus Spanien und Polen sind ein kleiner Lichtblick. Während etwa in Finnland und Schweden Konservative und (Wirtschafts-)Liberale mit Rechtsextremen ohne Skrupel auf Regierungsebene zusammenarbeiten, konnte die national-konservative PiS sich im Oktober 2023 in Polen keine absolute Mehrheit mehr sichern und in Spanien konnten nach den Wahlen im August 2023 die Sozialist*innen eine Mehrheit im Parlament organisieren. 

Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat Rechtspopulismus in der EU untersucht und Handlungsempfehlungen abgegeben, wie sich diese Ergebnisse in eine Gegenbewegung übertragen lassen. Sie betont: eine Mitte-Links-Strategie muss Werte wie Gleichheit und Nichtdiskriminierung in ihrem Mittelpunkt behalten. 

Oder anders gesagt: Wir können rechtsextreme Entwicklungen nicht bekämpfen, indem wir uns ihnen inhaltlich annähern – wie dies etwa in Deutschlands Migrationspolitik geschieht. Stattdessen dürfen wir bei dem Schutz von Menschen bzw. Minderheiten, egal, ob es um ihre fundamentalen Rechte oder beispielsweise ihre materielle Stellung geht, keine Kompromisse eingehen. Dass diese Strategie aufgehen kann, haben die jüngsten Wahlergebnisse gezeigt.

Dazu ist die Analyse der FES empfehlenswert. Sie arbeitet heraus, wie dieser allgemeine Grundsatz spezifisch in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten umgesetzt werden kann:

Halikiopoulou, D., & Vlandas, T. (2022). Understanding right-wing populism and what to do about it. 

Text: Lisa Storck

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Für Menschlichkeit im großen Stil! Rückblick zur Filmvorführung „Styx“

Month: November 2023

Wie jedes Jahr im Herbst lud Dietmar zu einer Filmvorführung mit anschließender Diskussion in Dortmund ein. Gezeigt wurde „STYX“, ein Film, der am Beispiel der Notärztin Rike, die während eines privaten Segeltörns auf ein Flüchtlingsboot trifft, sehr eindringlich die unsäglichen Umstände der Seenotrettung von Menschen auf der Flucht beschreibt.

Für den Filmregisseur Wolfgang Fischer waren der Gewöhnungseffekt in der Öffentlichkeit sowie fehlende menschenrechtskonforme politische Maßnahmen die Motivation, diesen Film zu drehen. Der Film soll aufrütteln. Doro Krämer von Sea-Watch berichtete in der anschließenden Diskussion, dass bei SOS-Rufen die entsprechenden Küstenwachen häufig gar nicht oder erst nach vielen Stunden reagieren. Sie weisen oftmals zivile Rettungsschiffe im Mittelmeer an, sich Flüchtlingsbooten nicht zu nähern.

Anja Sportelli von der Seebrücke Dortmund und Paul-Gerhard Stamm vom Netzwerk der Dortmunder Flüchtlingshelfer*innen-Initiativen betonten die hohe emotionale Belastung von Flüchtlingshelfer*innen und beklagten die „Gesichtslosigkeit und die Namenlosigkeit“ des Leids. Auch Cüneyt Karadas, Mitglied der SPD-Ratsfraktion Dortmund, war bei der Diskussion zu Gast und gab Einblicke in die flüchtlingspolitischen Maßnahmen der Stadt Dortmund. 

Dietmar verlangte, sich den inzwischen zum Mainstream gewordenen Forderungen nach mehr Abschiebungen entgegenzustellen. Eine solche Rhetorik trage nicht dazu bei, die Herausforderungen der Kommunen zu lösen und sei schon gar nicht geeignet, den Rechten und Nazis das Wasser abzugraben. Oder wie es die Jusos zutreffend formulieren: Sozialdemokratie bedeutet Politik mit humanitären Werten. Genau diese braucht es jetzt im großen Stil!

Text: Ulla Große-Ruyken und Lisa Storck

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10 Punkte zum Krieg im Nahen Osten

Month: November 2023

Stand: 23. November 2023

1 Wir können darauf hoffen, dass Geiseln freigelassen und eine Feuerpause für einige Tage erreicht werden kann. Als nächstes müssen die restlichen Geiseln freigelassen werden.

Die Terroristen der Hamas haben diesen Krieg begonnen, indem sie vorsätzlich und gezielt Gräueltaten begangen haben. Sie töteten Kinder, Frauen und ältere Menschen, die sterben mussten, weil sie Jüd*innen waren. Wenn man all diese grausamen Verbrechen sieht ist klar, mit welchem Ausmaß hier Hass geschürt worden ist und immer noch wird.

3 Es besteht kein Zweifel daran, dass das humanitäre Völkerrecht die Unterbrechung der Wasser-, Nahrungsmittel- und Stromversorgung verbietet. Die Aussagen der rechtsextremen Kräfte in der israelischen Regierung sind inakzeptabel. Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung, aber die militärischen Maßnahmen  müssen verhältnismäßig sein.

Die internationale Gemeinschaft muss dafür sorgen, dass sich Terroranschläge wie dieser nicht wiederholen und die Sicherheit Israels gewahrt bleibt. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Israel nicht nur von der Hamas angegriffen wird. Es gibt noch mehr Bedrohungen: Hisbollah, der Iran, Houthis im Jemen etc.

5 Die Verantwortlichen für diesen Terroranschlag müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Hamas-Vertreter betonen, dass sie ihre terroristischen Aktionen wiederholen würden. Wenn wir einen langfristigen Waffenstillstand fordern, stellt sich die Frage: Wer garantiert die Sicherheit Israels? 

6 Israel darf nicht dämonisiert werden, das delegitimiert den Staat. Israels Existenzrecht kann niemals in Frage gestellt werden.

7 Die Zukunft von Gaza ist nur ohne Hamas denkbar. Zudem muss Gaza entmilitarisiert werden, damit sich das Massaker vom 7. Oktober nie wiederholen kann.

8 Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die UN und die EU, hat zu wenig getan, um eine friedliche Zweistaatenlösung zu schaffen. Es gab zahlreiche UN-Verurteilungen der israelischen Siedlungspolitik, aber nur wenige Initiativen verurteilten und konzentrierten sich auf die Aktivitäten der Hamas im Vorfeld dieses Terroranschlags. Die vorherrschende Meinung in der internationalen Politik war, dass man mit dem Konflikt irgendwie umgehen müsse und es keine Lösung gebe. Das war ein grundlegender Fehler.

9 Die Palästinenser*innen müssen ihre eigene demokratische Regierung unter internationaler Kontrolle selbst bestimmen/aufbauen, damit eine Zweistaatenlösung mit Frieden und Wohlstand für alle erreicht werden kann.

10 Jüdisches Leben muss in der EU geschützt werden. Antisemitismus muss bekämpft werden.

 

Text: Prof. Dr. Dietmar Köster


Kommentar zur EU-Osterweiterung

Month: November 2023

Zur EU-Osterweiterung, insbesondere im Bezug auf Ukraine Moldawien und Georgien, durfte ich beim Förderverein Zeche Altstaden einen Impulsvortrag halten.

Die Europäische Kommission hat ihre Erweiterungspolitik zuletzt forciert, obwohl die genannten Länder bekanntermaßen Schwierigkeiten haben, die Aufnahmekriterien zu erfüllen. Das lässt sich vor allem durch geostrategische Motive der Kommission erklären. Dieser geopolitische Druck steht zuweilen in einem Spannungsverhältnis zu den Kopenhagener Kriterien, die die Beitrittsstaaten erfüllen müssen. Sie umfassen die institutionelle Stabilität, die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung sowie die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Schon jetzt haben wir innerhalb der EU mit Ungarn und Polen Staaten, die es mit Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten nicht so ernst nehmen.

Deshalb sind Reformen notwendig, um die EU handlungsfähiger zu machen, bevor sie weitere Mitglieder aufnimmt. Das gilt besonders für die Fiskalpolitik der EU, außerdem muss das Europäische Parlament ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge bekommen und das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik überwunden werden.

Die Ukraine und Moldawien haben bereits den EU-Kandidatenstatus erhalten. Georgien wurde er in Aussicht gestellt. Welche Perspektiven gibt es in den einzelnen Verfahren?

🇺🇦Die Ukraine hat zuletzt unter Beweis gestellt, dass sie auch in Kriegszeiten in der Lage ist, Fortschritte auf ihrem Weg in die EU zu erzielen. Den größten Nachholbedarf gibt es bei der Bekämpfung von Korruption. Zuletzt verzeichnete die Ukraine mit Korruptionsermittlungen und -Verurteilungen auf hoher Ebene sowie einem gestärkten institutionellen Rahmen eine wachsende Erfolgsbilanz in diesem Bereich. Der Beitritt wäre zudem mit gravierenden Veränderungen in der EU verbunden, besonders im fiskalen Bereich. So müssten alle heutigen Mitgliedstaaten, bleibt der aktuelle Finanzrahmen erhalten, ihre Zahlungen in den EU-Haushalt deutlich erhöhen. Zugleich würden die Mittel aus der Gemeinsamen Agrarpolitik für die jetzigen EU-Staaten um ein Fünftel gesenkt, während ein Achtel des gesamten EU-Budgets – rund 186 Milliarden Euro – an Kiew gingen. Ferner ist ein Beitritt der Ukraine, solange der russische Angriffskrieg andauert, ausgeschlossen.

🇲🇩Auch Moldavien hat wichtige Fortschritte erzielt. Es hat z.B. eine umfassende Justizreform begonnen und die Ermittlungen und Verurteilungen in Korruptionsfällen haben zugenommen. Außerdem wurde die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen verbessert und der Schutz der Menschenrechte gestärkt. Ein Aktionsplan zur De-Oligarchisierung mit festen Fristen wurde eingeführt und eine Strategie für die öffentliche Verwaltung mit Reformen auf allen Ebenen entwickelt.

🇬🇪Georgien hat insbesondere Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und zur Berücksichtigung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erlassen. Eine ganzheitliche Reform des Hohen Justizrates ist aber erforderlich und steht noch aus.

Ökonomisch, politisch und sozial gesehen bringt eine EU-Erweiterung verschiedene Perspektiven mit, die beachtet werden müssen.

Ökonomisch zeigt das Beispiel Ukraine, dass es massive fiskale Veränderungen gäbe. Bisherige Nettoempfänger*innen von EU-Subventionen im Agrarbereich wie Polen, Rumänien, Ungarn oder Griechenland ,würden durch einen Beitritt der Ukraine stark an Subventionen einbüßen oder die Beitragszahlungen der EU insgesamt müssten stark erhöht werden. Das ist eine Quelle für Unmut.

Politisch gesehen kann die EU durch eine höhere Mitgliederzahl an weltpolitischem Gewicht dazugewinnen und sich von anderen globalen Playern unabhängiger machen. Zudem ist die EU immer schon eine Friedensunion gewesen. Noch nie gab es Krieg zwischen EU-Mitgliedstaaten. Zur Stärkung des Friedens sollte die EU-Erweiterungspolitik weiter vorangetrieben werden. Wichtig ist, dass es Reformen gibt, die die Handlungsfähigkeit der EU auch bei einer Erweiterung erhalten und weiter verstärken.

In der Zivilgesellschaft in allen drei Staaten gibt es eine breite Unterstützung für die Europäische Union. Im Sinne einer menschenrechtsbasierten Außenpolitik ist es zentral, sie zu stützen und ihr eine ernsthafte Perspektive in der EU zu eröffnen. Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien trägt maßgeblich dazu bei.

Ausführliche Informationen zu den Fortschritten aller (potentiellen) Beitrittsstaaten gibt es hier: https://germany.representation.ec.europa.eu/news/eu-beitritt-kommission-fur-verhandlungen-mit-ukraine-und-moldau-2023-11-08_de